Sichtbarkeit. Das Wort begegnet mir aktuell überall. Früher habe ich nie so recht darüber nachgedacht, aber seit ich selber blogge, ist es sehr präsent geworden. Es ist auch Thema der Blogparade von Sabine Beck, in der es um die Angst vor der Sichtbarkeit geht.
Ich bin Sternzeichen Löwe. Es heißt ja immer, der Löwe sei eine echte Rampensau und müsse immer im Mittelpunkt stehen. Das konnte ich für mich nie so richtig unterschreiben. Es drängte mich nicht ins Scheinwerferlicht, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne. Ich hatte zwar nie ausdrückliche Angst, sichtbar zu sein, würde mich aber als tendenziell zurückhaltenden und privaten Menschen bezeichnen.
Ich möchte hier anhand von drei Beispielen darlegen, wie ich mit dem Thema Sichtbarkeit umgehe.
Sichtbarkeit auf der Bühne
Sichtbarkeit auf der Bühne, also im künstlerischen Sinn, geht für mich. Es ist aber nichts, was ich aktiv angestrebt habe.
Als unsere Grundschullehrerin unserer Klasse vorschlug, ein kleines Theaterstück einzustudieren, hatte ich mir über „Sichtbarkeit“ natürlich noch keine Gedanken gemacht. Wir waren ja erst 8 oder 9 Jahre alt. Die Proben und die Aufführung vor unseren Eltern machten Spaß, auch wenn wir alle total aufgeregt waren. Es folgten noch weitere Aufführungen, auch vor größerem (Schul-) Publikum. War cool. Hätte es im Gymnasium eine Laienspielgruppe gegeben, wäre ich wahrscheinlich direkt dort eingetreten. Gab es aber nicht, war auch ok.
Verpasste Chance? Möglich.
Statt dessen nahm ich mit etwa 11 oder 12 Jahren Ballettunterricht. Die Lehrerin zwang alle Schülerinnen zu regelmäßigen Aufführungen auf die Bühne – ich habe es gehasst. Es machte mir einfach keinen Spaß, in ziemlich beknackten Kostümen irgendwelche Tänze aufzuführen, die nicht mal choreografisch besonders interessant waren. Ich wollte Ballett lernen, nicht nur Schrittabfolgen. Letztendlich war das der Grund, warum ich mich vom Unterricht abgemeldet habe, obwohl mir das Tanzen viel Spaß machte.
Auch spätere Ballettlehrerinnen versuchten, mich auf die Bühne zu bringen – Magdalena in Spanien hatte sogar den Coppelia-Walzer in der Originalchoreografie für mich vorgesehen. Ich nehme das mal als Kompliment, so von wegen Können, Bühnenpräsenz und so, aber ich hatte trotzdem kein Interesse. Wenn ich als Tänzerin auf der Bühne hätte stehen wollen, hätte ich früher angefangen und vor allem härter trainiert. Aber das sehe ich einfach nicht als meine Berufung.
Öffentliche Rede
Die Angst davor, öffentlich zu sprechen, ist zumindest in den USA noch stärker ausgeprägt als die Angst vor dem Tod, vor Spinnen oder vor Höhen. Dort geht man davon aus, dass bis zu 75 % der Bevölkerung betroffen sein könnten.
Ich war also in guter Gesellschaft, als ich im Sommer 2006 zum ersten Mal eine öffentliche Rede halten musste. Auf dem Münchener Filmfest. Vor lauter fremden Menschen. Ich starb fast beim Gedanken daran. Wovor hast du Angst, fragte mich eine Kollegin, du sprichst nach S., der ist der schlechteste Redner der Welt. Schwacher Trost (obwohl es stimmte).
Was soll ich sagen. Es ging alles gut. Nachher kamen diverse Gäste auf mich zu, denen ich erzählt hatte, dass ich gleich sprechen müsse und schon wahnsinnig aufgeregt sei. Alle sagten mir, wie toll ich das gemacht hätte. Ich war eine Mischung aus überrascht, ungläubig und wahnsinnig dankbar. War das nur Mitleid? Keine Ahnung, mich hat es damals jedenfalls total aufgebaut.
Später, als ich für einen Studiengang arbeitete, musste ich mich öfter vor die Studierenden stellen, um etwas zu präsentieren, zu organisieren, zu erklären. Mehrfach leitete ich auch Gruppen. Das scheint einen Schalter bei mir umgelegt zu haben. Heute habe ich zwar immer noch Herzklopfen, wenn ich öffentlich was sagen muss, aber keinen Horror mehr davor.
Diese Erkenntnis hatte ich zu meinem großen Erstaunen in meinem letzten Job. Denn dort organisierte ich gemeinsam mit einer Kollegin in Brüssel eine Webinarreihe mit fünf Veranstaltungen. Es ergab sich, dass ich bei einem Webinar die Moderation und bei einem anderen eine ganze Präsentation übernehmen musste. Einfach in die Kamera zu sprechen fiel mir wesentlich leichter, als mich vor physisch anwesende Menschen zu stellen. Das hat mich wirklich überrascht. (Meine Kollegin, topqualifiziert und super kompetent, weigerte sich konsequent, überhaupt öffentlich in Erscheinung zu treten. Das hat mich noch mehr überrascht.)
Als Konsequenz daraus strebe ich jetzt zwar keine Karriere als Gastrednerin an (zumindest nicht, solange die zu erwartende Gage unter der von Barack Obama liegt). Aber es beruhigt mich zu wissen, dass die öffentliche Rede mir keine schlaflosen Nächte bereiten muss.
Sichtbarkeit im Internet
Wir leben in goldenen Zeiten für alle, die gerne sichtbar sein möchten. Mit allen dazugehörigen Exzessen. Mir stehen häufig alle Haare zu Berge, wenn ich sehe, wie andere sich inszenieren.
Auf Social Media bin ich so mittelmäßig sichtbar. Mein Facebook-Konto ist privat. Instagram finde ich super, weil ich Fotografie als Kunstform und als Medium liebe. Allerdings hatte ich bislang eine no-face bzw. no-people-policy. Also nur Bilder ohne klar erkennbare Menschen, keine endlosen Selfie-Paraden. LinkedIn nehme ich gar nicht so recht als soziales Medium wahr, auf Twitter/X bin ich nur (lesend), weil mein ehemaliger Arbeitgeber alle Mitarbeitenden mehr oder weniger gezwungen hat, ein Konto zu eröffnen.
Und jetzt blogge ich. Plötzlich bin ich also sichtbar mit Bild und Wort. Wie ich schon in Warum ich schreibe (mein Beitrag zur Blogparade von Gabi Kremeskötter) sage, fällt mir das Veröffentlichen meiner Beiträge, also die Sichtbar-Machung, leicht. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich keinen Termindruck habe zu veröffentlichen. Bevor der Artikel in die Welt geht, kann ich das Geschriebene also in Ruhe überdenken. Meine ich das wirklich so, was ich da sage? Und abgesehen davon gilt das Motto von Judith Peters: Blog like nobody’s reading, was in meinem Fall ja auch noch sehr weitgehend stimmt. Das live gesprochene Wort hingegen ist raus, und alle haben es gehört.
Das bedeutet nicht, dass ich ohne Rücksicht auf Verluste schreibe. Gerade bei etwas „haarigeren“ Themen, wenn es beispielsweise um psychische Gesundheit geht, hole ich mir Input und Feedback von einer Freundin, die vom Fach ist. Wer schreibt, der bleibt, und Google vergisst nichts, also ist auch etwas inhaltliche Vorsicht geboten.
Warum ist Sichtbarkeit eigentlich so furchteinflößend?
Wer sichtbar ist, ist exponiert. Wird taxiert und bewertet. Wird schnell zur Zielscheibe von Spott, Kritik, Belästigung, Hass. Gerade auf Social Media werden insbesondere Frauen mit unsachlichen und persönlich beleidigenden Kommentaren und Nachrichten überhäuft – weil sie eine Meinung haben. Kein Wunder, dass es Menschen gibt, die lieber keine Sichtbarkeit für sich möchten.
Dann ist da die Sache mit der Verantwortung. (Inhaltliche) Sichtbarkeit hat ja auch viel mit Gestaltungs- und Führungswille zu tun. Ich stelle mich hin und posaune meine Meinung in die Welt hinaus, also will ich damit etwas erreichen. Vielleicht löst meine Sichtbarkeit bei anderen eine Handlung aus, fügt anderen gar Schaden zu – das zeigte sich sehr deutlich beim Storm auf das US-amerikanische Kapitol am 6. Januar 2021, ausgelöst nicht zuletzt durch die trumpsche Rhetorik (interessanter Gastbeitrag zu diesem Thema in der New York Times, leider Bezahlschranke). Kann und will ich dafür die Verantwortung übernehmen?
Und drittens: Wenn ich sichtbar bin, sind gegebenenfalls auch meine Fehler sehr sichtbar (tolle Verbindung zu Sabrina Linns Blogparade zum Thema Fehler und Scheitern). Kommt da vielleicht noch eine sprichwörtliche Leiche ans Licht, die ich sicher im Keller wähnte?
Wider die Angst
In Sabines Blogparade geht es um die Frage, wie man mit Angst vor Sichtbarkeit umgeht, was Sicherheit verleiht. Bei mir sind es im Wesentlichen vier Dinge:
- Übung. Das war bei mir wohl wirklich das Ausschlaggebende. Nachdem ich mehrfach öffentlich gesprochen hatte, war es nicht mehr so schlimm.
- Kompetenz. Wenn ich mich mit dem Thema auskenne, fällt es mir leichter, darüber zu sprechen. Beim Filmfest war ich nicht wirklich mit dem Thema vertraut und betete, dass mir niemand eine Frage stellen würde.
- Intrinsische Motivation. Siehe die Ballettaufführungen. Ich liebe das Ballett, aber ich habe kein Interesse daran, auf der Bühne zu stehen.
- Struktur. Zum Beispiel hatte ich eine Dozentin, die einen Zettel mit rules for presentations austeilte: klare Anweisungen, wie man sich beim Referat zu verhalten habe. Ich sehe diesen Zettel noch immer vor meinem inneren Auge. Hilft.
Liebe Julia,
herzlichen Dank für diesen wunderbaren Beitrag zu meiner Blogparade „Wie überwindest Du Deine Angst vor Sichtbarkeit?“.
Klasse, wie strukturiert Du das Thema aufgreifst und es mit ausgewählten persönlichen Erlebnissen erklärst. Deine Hintergrundinformationen und die Verknüpfung zu thematisch angrenzenden Artikeln ergänzen es perfekt. Ich finde Deinen Text sehr tief. Er zeigt, wie komplex das Thema ist. Beziehungsweise, wie komplex beide Themen und Elemente sind:
Angst – als ganz große und starke Emotion.
Sichtbarkeit – als persönlicher Zustand, zu dem man seine Haltung und Meinung entwickelt.
Je nach Anteil und Ausrichtung zeigt ein Mensch weniger oder mehr von sich, gelassen oder aufgeregt.
Interessant finde ich, dass auch bei Dir der Punkt „Kompetenz“ auftaucht – im Beitrag von Steffi Fleischer zu meiner Blogparade war es der Punkt „Wissen“. An den denke ich persönliche gar nicht so explizit oder oft beim Thema Sichtbarkeit.
Interessieren würde mich , warum Du Dich bei Instagram für eine „no-face-policy“ entschieden hast und wieso Du LinkedIn nicht als soziales Medium wahrnimmst. Das ist spannend. Vielleicht gibt es in irgendeiner Form ja noch eine Fortsetzung unseres Austauschs.
Ich freue mich, wenn Dich mein Blogthema inspiriert hat, neue Blicke auf Dich und Deinen Umgang mit Deiner Sichtbarkeit zu werfen. Ein großes Dankeschön für das Teilen Deiner Gedanken und Erfahrungen!
Viele Grüße, Sabine
Liebe Sabine,
ich merke schon, wir sollten uns demnächst zu regelmäßigen Diskussionsrunden treffen. 🙂
Für mich bedeutet social media Freizeit/Unterhaltung und LinkedIn Arbeit/Ernst. Das waren für mich zwei verschiedene Paar Schuhe. Natürlich wird LI zunehmend Facebook-esque.
Bei Insta bin ich auf no-face gegangen, weil ich hauptsächlich Urlaubsfotos poste und nicht finde, dass eine schöne Landschaft durch mein Konterfei unbedingt weiter verschönert wird. (Deswegen mache ich allgemein nicht sooooo viele Selfies, was jetzt beim Bloggen wieder problematisch ist, da ich gleich am Anfang Beschwerden bekommen habe, dass ich auf den Reisebildern nicht zu sehen bin…) Auch wollte ich nicht mit meinem Gesicht sichtbar sein, weil ich einen social-media-stalkenden Ex habe. Aber die Unsichtbarkeit hat sich mit dem Blog ja ohnehin erledigt, also werde ich auch meine Insta-policy überdenken.
Viele Grüße, Julia
Liebe Julia,
danke für die Verlinkung zu meiner Blogparade „Wie gehst du mit Fehlern um? Erlaubst du dir Fehler und „zu scheitern“?“.
Ich finde das Thema Sichtbarkeit auch sehr spannend und den Aspekt der Angst davon. Ich bin inzwischen dankbar für meine Angst, da sie mir hilft Dinge zu überdenken und zu reflektieren. Wichtig ist dabei, mich nicht in ihr zu verlieren, mir gelingt das über das Spüren in meinen Körper, dann verliere ich mich nicht in der Emotion. Meine Angst hilft mir, nicht übereilt und impulsiv Entscheidungen zu treffen, sondern noch mal hinzuschauen und abzuwägen. Ich frage mich dann immer, was brauche ich noch, um mich sicherer zu fühlen, das nimmt mir die Angst und lässt mich lösungsorientiert denken und Handlungsstrategien finden
Du hast das für dich sehr toll gelöst mit den 4 Punkten, die du am Ende nennst. Sehr inspirierend!
Herzliche Grüße,
Sabrina