Die Begriffe „Bürgergeld“ und „Mental Health“ sind gefühlt in aller Munde, werden aber nur selten im selben Atemzug verwendet. Denn Mental Health, psychische Gesundheit, kostet häufig Geld – in der Regel mehr, als Menschen mit Bürgergeld zur Verfügung haben. (Bürgergeld ist übrigens das frühere Hartz IV.)
Seit einem guten Jahr arbeite ich nun als Coachin bei einem Bildungsträger. Unser Team leistet sozialpädagogische Beratung für Jobcenter-Kund*innen, also Personen, die Bürgergeld beziehen. Alle unsere Teilnehmenden sind außerdem in einem Jobcoaching, das ihnen bei der Arbeitssuche helfen soll. Wenn ihr*e dortige*r Coach*in meint, dass es noch andere Probleme als Format und Inhalt des Lebenslaufs gibt, kommen sie zu uns.
Ein erstes Fazit habe ich bereits nach 100 Tagen gezogen. Der Job ist für mich sehr belastend – so sehr, dass ich nach wenigen Monaten meine Arbeitszeit auf sechs Stunden pro Woche reduziert habe. So betreue ich drei Teilnehmende, das kann ich aushalten. Auch wenn ich bei manchen Lebensgeschichten kaum noch weiß, wo mir der Kopf steht.
Aber heute geht es nicht um mich. Heute möchte ich speziell über die Mental Health (oder was davon übrig ist) meiner Teilnehmenden sprechen. Denn gerade hat sich einer meiner Teilnehmer selbst in die Psychiatrie eingeliefert.
Mental Health!?
Mental Health, was ist das? So gut wie alle Teilnehmenden kommen mit einer enormen psychischen Belastung und massivem Druck zu mir. Fast alle brauchen eine Psychotherapie. Niemand kann sie sich leisten – und überhaupt, viel Glück beim Versuch, in München mal schnell einen Therapieplatz zu bekommen.
Ich bin keine Therapeutin oder sonst klinisch ausgebildet, daher kann ich natürlich nicht diagnostizieren und verwende die Begriffe nicht im klinischen Sinne. Aber wir sehen viele, viele Menschen, die traumatisiert sind oder zumindest schwer tragen. Entweder aufgrund von Erlebnissen in der Kindheit, aufgrund von Gewalterfahrungen als Erwachsenen oder aufgrund von Kriegs- und Fluchterfahrung. Manchmal auch mehreres davon. Bei manchen schwappt einem der Schmerz geradezu entgegen.
Andere – nochmal, das sind hier keine klinischen Diagnosen – haben wohl zumindest depressive Verstimmungen, wenn nicht gleich richtige Depression. Mir sitzen viele Menschen gegenüber, die arbeiten wollen. Dringend. Lieber heute als morgen. Und die es absolut fertig macht, dass sie nur Absagen bekommen; dass sie nach 40 Jahren vom einzigen Arbeitgeber, den sie je hatten, aussortiert wurden; dass sie vom Arbeitsmarkt klar abgelehnt werden. Egal, was sie machen und wie sehr sie sich anstrengen.
Denn es liegt nicht nur daran, dass sie sich nicht genug Mühe geben oder nicht genug Bewerbungen schreiben.
Und jetzt sitzen sie da und sagen: „Ich kann nicht mehr.“ „Das hat doch alles keinen Sinn.“ „Ich weiß nicht weiter, ich habe Angst.“
Das Henne-und-Ei-Problem
Natürlich ist nicht immer klar, was zuerst da war – die psychischen Probleme oder das Bürgergeld.
Manchmal ist die Kausalität klar. Ein Teilnehmer meines Chefs war erfolgreicher Unternehmer gewesen. Er geriet in ein Burnout, konnte nicht mehr arbeiten und hat alles verloren. Er schämt sich wahnsinnig, hat alle, wirklich alle sozialen Kontakte abgebrochen und lebt völlig isoliert. Seine eigenen Eltern wissen nicht, dass er Bürgergeld bezieht.
Bei meinen eigenen Teilnehmenden bin ich mir nicht immer ganz sicher, wie viel da schon vorher im Argen lag. Aber eins ist klar: Der Status Bürgergeldbezug wirkt fast immer verstärkend auf bereits bestehende Probleme, Störungen oder wie auch immer man das nennen möchte. Und wo noch keine Störung besteht, kann nun leichter eine entstehen. Weil die Bürokratie zermürbt. Weil es ständig Geldsorgen gibt (gerade bei Eltern mit jüngeren Kindern). Weil diese ganzen Leute, denen man ja gerne unterstellt, sie wollten alle gar nicht arbeiten, eben doch ein produktiver Teil der Gesellschaft sein wollen.
Die Arbeitslosigkeit und das Gefühl, nicht gewollt und nicht gebraucht zu werden, zerstören den Selbstwert.
Die Psychiatrie
So ist es auch bei diesem einen Teilnehmer. Mitte 30, ursprünglich vom Balkan, hat schon als Kind in Deutschland gelebt und ist seit diversen Jahren wieder hier. Immer in Arbeit. Ein richtig netter, freundlicher, zuvorkommender Mann. Sehr offen – schon in der ersten Sitzung hat er geweint und nicht mit seinen Themen hinter dem Berg gehalten.
Er hat einen Job verlassen, um eine IT-Fortbildung zu machen. Die hat er trotz schwieriger Rahmenbedingungen erfolgreich abgeschlossen. Seit über einem Jahr sucht er nun einen Job und bekommt nur Absagen. Das hat ihm, der sich immer reinhängt und immer gute Beurteilungen hatte, komplett den Selbstwert zerschossen.
Er macht sich Vorwürfe, den bestehenden Job gekündigt zu haben. Er verspürt familiären Druck (oder macht ihn sich selbst), als ältester Sohn Geld zu verdienen. Er schämt sich dafür, dass seine Freundin bezahlt, wenn sie ausgehen. (Zum Glück hat er eine Freundin, die fest an seiner Seite steht und ihn offenbar auch mental sehr unterstützt hat.)
Anfang des Jahres ein Hoffnungsschimmer: Er bekommt ein einwöchiges Praktikum bei einer Firma, die einen IT-Quereinsteiger sucht. Zwei Wochen später ist er wieder bei mir: Es hat nicht geklappt.
Eigentlich wirkt er ganz gefasst, als er mir das erzählt. Beim Reinkommen hat er gelächelt. Doch nun sagt er, er habe sich in den vergangenen acht, neun Tagen quasi täglich total besoffen. Er habe sein Leben einfach nicht mehr im Griff. Er wisse nicht mehr weiter.
Er zeigt mir seinen Handrücken, den er sich am Vortag zerschnitten hat.
Ob er Selbstmordgedanken habe, frage ich. Ja, hat er.
Den Rest der Stunde versuche ich, ihm die Notaufnahme der LMU Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie schmackhaft zu machen. Ich biete ihm an, gemeinsam mit ihm hinzugehen, jetzt sofort. Das möchte er nicht. Also machen wir einen Plan: Er wird nach Hause gehen, unterwegs aber seinem Bruder und seiner Freundin Bescheid geben, damit er nicht alleine ist. Am Nachmittag will er mit seiner Freundin zur Notaufnahme gehen.
Es dauert noch eine Woche, bis er mir schreibt. Er ist nun in der Klinik. Ich bin sehr erleichtert und gleichzeitig unfassbar traurig und bestürzt.
Wirklich?
Wenn ich diese und andere Geschichten erzähle, ernte ich fast immer skeptische Blicke. Wirklich? Ist der so krank? Tut der nicht nur so, damit er nicht arbeiten muss?
Oder gerade neulich erst, bei den Familienaufstellungen. (Ausgerechnet da, wo es so sehr darum geht, andere Menschen ohne Wertung zu betrachten.) Eine Teilnehmerin zieht mittags so richtig vom Leder. Die Ausländer! Und die Flüchtlinge, die alle kein Deutsch lernen wollen! Und die Bürgergeldempfänger, die sich ein schönes Leben auf unsere Kosten machen!
Kann man denn mit Bürgergeld so gut leben?, fragt ein anderer. Nein, sage ich; DOCH!, ruft die andere. Sie kennt schließlich Leute, die im Jobcenter arbeiten, und die sagen …
Woher kommt das, frage ich mich. Woher kommt diese Wut auf Menschen, die so gut wie nichts haben? Der Regelsatz für eine alleinstehende Person beträgt aktuell 563 € pro Monat. Natürlich kann man damit (über-) leben, aber große Sprünge macht man damit nicht. Und am Monatsende ist das Konto leer. Wenn meine Teilnehmenden ausgehen, dann nur, weil sie eingeladen werden. Urlaub, was ist das? Und wenn die Waschmaschine kaputtgeht, dann gute Nacht. Oder, noch schlimmer, das Jobcenter fordert plötzlich Geld zurück, z. B. aus einer Nebenkostenerstattung. (Genau das ist einem anderen Teilnehmer passiert. 900 €, wird auf die nächste Auszahlung angerechnet. Er war völlig verzweifelt. Wir konnten Ratenzahlung vereinbaren.)
Ich habe Teilnehmende, die es schaffen, sich „Wohlfühlnischen“ zu erobern. Die etwas haben, was ihnen gut tut und was sie relativ günstig ausüben können. Das kann Journaling sein, Pokemon-Spielen oder Kreativität beim Nägellackieren. (Gerade fällt mir auf, dass meine Teilnehmerinnen besser in Finden solcher Nischen sind als meine Teilnehmer.)
Denen geht es mental ganz gut. Oder zumindest sind sie stabiler und positiver. Das heißt aber nicht, dass sie ihren Status begrüßen und ad infinitum weiterführen möchten. Im Gegenteil. Die Teilnehmerin mit den aufwendig gestalteten Fingernägeln wollte eigentlich als Art Director arbeiten. Ihre Freunde in der Ukraine machen alle Karriere und verdienen richtig gut, während sie sich hier eine kleine Wohnung mit ihrer Mutter teilen muss und ein Praktikum machen soll. Sie rauft sich fast die Haare aus bei dem Gedanken.
Manchmal bringt es doch etwas
Wie schon erwähnt, therapieren kann ich nicht. Aber ich kann versuchen, ein bisschen Unterstützung anzubieten. Ich versuche, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich meine Teilnehmenden sicher und wahrgenommen fühlen. In der sie sich öffnen können. Wo die Tränen fließen können, wenn sie müssen. Gelegentlich habe ich den Eindruck, ich kann doch etwas ausrichten.
Ich bin sehr stolz darauf, dass der Teilnehmer, der jetzt in der Psychiatrie ist, sich mir anvertraut hat, als er ganz unten war. Er habe schon im ersten Gespräch gespürt, dass er wirklich über alles reden könne, sagte er.
Mit einer anderen Teilnehmerin arbeite ich seit dem Sommer 2024. Bei ihr hat sich in wenigen Monaten unglaublich viel getan. Anfangs erzählte sie mir von Todesdrohungen, die sie von einem Bekannten erhalten hatte, und dass sie immer eine Bierflasche als Waffe in der Tasche habe. Jetzt fängt sie an, sich ihrer Mutter gegenüber zu behaupten, und hat sich einen Lover zugelegt. Diese Veränderung mitzuerleben, ist ebenfalls sehr berührend.
Ich hoffe von Herzen, dass mein anderer Teilnehmer auch bald ins Licht kommt.
Facts & Figures Bürgergeld
Der Regelsatz für eine alleinstehende Person beträgt, wie bereits erwähnt, 563 € im Monat. Das Jobcenter zahlt auch die Miete, aber wehe, Deine Wohnung ist auch nur einen Quadratmeter größer als vorgesehen und/oder Du ziehst ohne Erlaubnis des Jobcenters um. In einer Stadt wie München eine Sozialwohnung zu bekommen, ist so gut wie unmöglich. Auch, wenn man alle Dringleichkeitskriterien erfüllt.
Es gibt aktuell ca. 5,5 Millionen Personen, die Bürgergeld beziehen. Davon sind 1,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren. (1,5 Millionen Kinder!!!) Somit bleiben knapp 4 Millionen Menschen, die überhaupt erwerbsfähig sind. Von denen
- „sind 20 Prozent erwerbstätig (aufstockendes Bürgergeld),
- standen 40 Prozent dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung (hiervon wiederum verweigern nur einige wenige nachhaltig die Aufnahme einer Arbeit).
- Die restlichen 40 Prozent sind in ungeförderter Erwerbstätigkeit, in einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme, gehen zur Schule, studieren, pflegen Angehörige, erziehen Kinder oder stehen aus anderen triftigen Gründen dem Arbeitsmarkt nicht oder nur sehr eingeschränkt zur Verfügung.“
(Zitiert aus: „Die größten Irrtümer beim Bürgergeld“ von ver.di, abgerufen am 6. März 2025.)
40 % von 4 Millionen, das sind also ca. 1,6 Millionen Menschen, die arbeiten könnten.
Dem stehen aber etwa 4 Millionen Menschen entgegen, die nicht arbeiten können. Oder die doch arbeiten, aber eben nicht formell und nicht bezahlt. 563 € netto im Monat, um Angehörige zu pflegen? Klingt nach einem echten Hungerlohn. (Das Einstiegsgehalt in der Altenpflege liegt laut Medi-Karriere.de (abgerufen am 8. März 2025) bei 2.600 €. Es würde sich also deutlich lohnen zu arbeiten, wenn man z. B. so gerne Altenpflege macht.)
Wie steht es um Deine Mental Health?
Wenn Du ernsthafte Selbstmordgedanken hast, ruf bitte sofort die 112 an oder geh in die Notaufnahme des nächstgelegenen Krankenhauses.
Egal, ob mit oder ohne Bürgergeld, uns allen geht es mal schlecht. Aber wenn der Zustand anhält oder regelmäßig wiederkehrt, wenn Du zunehmend die Lebenslust verlierst, keinen Sinn mehr siehst und Dich zu nichts aufraffen kannst, steckt vielleicht ein tieferliegendes Problem dahinter. Vielleicht überlegst Du schon länger, ob Du nicht vielleicht doch ein Problem hast, für das Du professionelle Hilfe in Anspruch nehmen solltest.
Es ist keine Schande, sich in psychologischen Dingen Hilfe zu holen, sondern zeugt von großer Stärke.
Bei leichten und mittleren Beschwerden besprich das Thema zunächst mit einer Ärztin bzw. einem Arzt. Dort sitzt die Fachkompetenz, man kann Dir Empfehlungen geben und Dich ggf. auch an jemanden überweisen, dessen (psychologische) Unterstützung von den gesetzlichen bzw. privaten Krankenversicherungen bezahlt wird.
Wenn Dein Anliegen nicht ernst genommen wird – das geschieht leider nach wie vor häufig -, dann geh in eine andere Praxis.
Alternativ kannst Du unter der Telefonnummer 116 117 die Kassenärztliche Vereinigung anrufen. Dort hilft man Dir bei der Psychotherapeutensuche. Die KV hat auch eigene Webseiten mit weiteren Informationen, hier z. B. die KV Bayern.
Vielen Dank für deine Sicht und deine klaren Worte auf diese absolute Katastrophe. Unsere Gesellschaft hat sich so sehr darauf eingeschossen, nach unten zu treten, dass es mir echt weh tut. Und Besserung ist aktuell leider auch nicht in Sicht. Es ist zum Haare raufen.