Die Idee zu diesem Artikel kam von Jim, einem Freund in den USA. Im Herbst 2023 schicke ich ihn zudem als Beitrag zu Sabrina Linns Blogparade Wie gehst du mit Fehlern um? Erlaubst du dir Fehler und „zu scheitern“? ins Rennen.
Jim und ich ziehen uns gerne gegenseitig auf. Als ich von meinen Blogplänen erzählte, fragte Jim, ob es dabei um Underachieving gehen solle.
„Underachieving“, also „untererfüllen“, ist natürlich nur ein Euphemismus für „scheitern“. Das würden die meisten Leute ganz gut selber hinbekommen, meinte Jim, einen Blog zur Anleitung bräuchten sie eher nicht. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass er nicht so restlos beeindruckt war von meinem Vorhaben.
Freunde kann man sich aussuchen, Familie schickt einem der Teufel
Jim ist nach eigener Aussage Type A Personality, also ehrgeizig und kompetitiv. Alles „achieving“, nix „under“. Mich hält er offensichtlich für Typ B, wenn nicht C.
Was Jim nicht weiß: Scheitern war auch bei uns in der Familie nie eine Option. Leistung wurde immer erwartet, egal wo. Ich kann mich noch an den finsteren Blick meiner Oma erinnern, als sie mir zum ersten Mal eine Schüssel in die Hand drückte, auf dass ich die Eier darin verquirlte. Ich konnte das nicht. Zumindest nicht so gut, wie sie sich das vorstellte. Ich war ungefähr 6 und hatte das noch nie gemacht. Wenn ich heute Eier verquirle, sehe ich immer ihr Gesicht.
In der Schule ging es – Überraschung – weiter. Als ich in der 7. Klasse mal eine 3 in Deutsch nach Hause brachte, hätte sie mich wohl am liebsten in den Keller gesperrt. Sie sah mich an, als sei alle Hoffnung verloren und mein Weg in die Gosse klar vorgezeichnet. Auch für meine Mutter war es gottgegeben, dass ihre Kinder Abitur machen und studieren. Ich habe das voll übernommen – und ehrlich gesagt hätte ich in der 10. Klasse auch noch gar nicht gewusst, was ich sonst hätte machen wollen.
Damals habe ich nicht kapiert – und meine Mutter noch viel weniger -, dass dieser Weg nicht für jeden der richtige ist. Was mir verhältnismäßig (Schule) bzw. sehr (Studium) leicht von der Hand ging, war für meine Schwester eine echte Qual. 25 Jahre später hätte uns mein Nicht-Kapieren fast die Beziehung zerschossen.
Natürlich ging auch in unserer Familie viel schief: Ehen, Projekte, Unternehmen, Existenzen scheiterten. Mein Urgroßonkel wurde unfreiwillig in die USA verschifft, weil er Alkoholiker war. Wie man das damals gerne machte mit den schwarzen Schafen.
Heute gehe ich davon aus, dass diese Leistungsorientierung ihren Ursprung nicht zuletzt in einer Zeit hat, in der es einfach um die Wurscht ging, wo sich im Rahmen der Industrialisierung und wirtschaftlichen Entwicklung vieles veränderte und man die Gelegenheit hatte, seine eigenen Umstände zu verbessern – oder eben in der Masse unterzugehen. Bei meiner Familie klappte das im Großen und Ganzen gut, wobei wahrscheinlich auch an verschiedenen Stellen über Leichen gegangen wurde. Später sah man die Gescheiterten und die mit dem Scheitern verbundenen Schmerzen – und natürlich auch immer die Gefahr, dass man selber als nächstes an der Reihe sein könnte.
Natürlich verursacht auch die Leistungsorientierung Schmerzen.
Und ich?
Mit etwa 30 lernte ich auf einer Messe einen Schweden kennen, der 20 Jahre lang in den USA gelebt hatte. Für ihn sei immer klar gewesen, erzählte er, dass er an seinem 40. Geburtstag wieder in seinem Heimatort leben würde, und so sei es auch gekommen. Meine spontane Reaktion damals: „Wenn ich an meinem 40. Geburtstag wieder in meinem Heimatort lebe, heißt das nur eins: Versagen auf ganzer Linie.“
Und wo lebte ich an meinem 40. Geburtstag? Richtig.
Damals habe ich mich zum ersten Mal eingehend mit der Frage beschäftigt, was für mich eigentlich „Erfolg“ und „Scheitern“ bedeuten. Ich hatte nie Ziele wie „mit x Jahren Abteilungsleitung“ oder „ich will Geschäftsführerin werden“. Das schnelle Erklimmen der Karriereleiter hatte ich allein schon deshalb nicht auf dem Schirm, weil mich Statussymbole langweilen. Mein Haus, mein Boot, mein Auto? Gähn. Aber was hatte ich eigentlich an Erfolgen vorzuweisen, 40-jährig und wieder in meinem Kinderzimmer wohnend?
Natürlich bin auch ich leistungsorientiert und kompetitiv. Ich musste mich sogar stark zurücknehmen, um meinen kleinen Neffen beim Memory-Spielen gewinnen zu lassen. (Beim Fußball war ich dann eher unerwartete Konkurrenz für ihn.) Aber mein Ehrgeiz ist auf Inhalte ausgerichtet. Ich finde es schrecklich, irgendwelche Prestigeprojekte durchzuziehen, die viel Geld kosten und nichts bringen, nur damit mein Name darauf steht. Ich will mir nicht den ganzen Tag überlegen müssen, wen ich anschleimen muss, um bei der nächsten Beförderungsrunde „Erfolg“ zu haben. Und als ich mal in einer Organisation arbeitete, wo ich viele Stunden in endlosen Meetings verbringen musste, in denen dann doch nichts entschieden wurde, bin ich fast verzweifelt. Voran ging da gar nichts.
Da kann ich auch gleich im Bett bleiben.
Wie geht es weiter?
Wie endet diese Geschichte? Ich habe keine Ahnung. Eine genaue Definition von Erfolg habe ich für mich immer noch nicht gefunden. Ich weiß nur, dass sie unabhängig von Titeln ist. Ich weiß auch, dass ich es beruflich nicht gut in einem Umfeld aushalte, in dem Selbstdarstellung über Inhalten steht und Qualitätsstandards an unfähigen Führungskräften ausgerichtet werden. Ich bin deshalb wiederholt aus gutbezahlten Jobs rausgegangen – weil ich einfach nicht mehr dasitzen und freundlich lächeln konnte.
Leider bin ich zu jung, um direkt in den Ruhestand zu gehen. Aber in den letzten Wochen und Monaten hat sich bei mir einiges verändert, und ich gehe davon aus, dass dies nur die ersten Schritte einer langen Reise waren. Das Ziel sind Erfüllung und Zufriedenheit, die Route ist noch ungewiss.
Ich würde ja einen deutlichen Unterschied sehen zwischen Scheitern und Underachieving. Scheitern ist relativ klar bestimmbar für mich: Sich ein erreichbares Ziel setzen und es dann nicht erreichen. Gescheitert. So gesehen kann man scheitern am einfachsten vermeiden, indem man sich kein Ziel setzt. „Underachieving“ ist sehr viel schwammiger. Das heißt ja eher: ein Potenzial nicht ausgeschöpft haben? Und stellt die Folgefragen: Welches der vielen Potenziale? So als Beispiel: wenn ich jetzt die nächsten 5 Jahre meines Lebens einzig darauf fokussiere, durch den Ärmelkanal zu schwimmen, würde ich mir eine realistische Chance geben. Werde ich natürlich nicht tun. Im Bezug auf Freiwasserschwimmen werde ich also underachiever bleiben. Würde ich jetzt 5 Jahre trainieren, würde ich vieles andere vernachlässigen.. Ich fürchte wir müssen damit leben, in ganz vielen Aspekten unseres Lebens weit unterhalb des eigenen Potenzials zu bleiben. Die These, dass es nur eine Wertung/Kategorie in der man achieven soll, hingegen ist langweilig.
ich finde es sehr mutig in unserer Leistungsgesellschaft, wo der Wert des Menschen häufig über dessen beruflichen Erfolg definiert wird, dies zu hinterfragen und vor allem anders zu leben. Denn die inneren Stimmen und Antreiber flüstern meist sehr intensiv und können den neuen individuellen Weg einem sehr vergählen.
Wenn man Bücher liest über Menschen am Sterbebett, dann ist es meist nicht der monetäre Erfolg der noch mehr hätte sein sollen, sondern das Zuwenig an schönen Begegnungen, Naturverbundenheit…. das sie bedauern. Liebe Grüße Maria
Liebe Julia, mich beeindruckt dein Blog Sinnsuche – weil er mich positiv zum Nachdenken anregt, das finde ich immer bereichernd für mich – für mich gehört dazu die Beschäftigung mit „bin ich glücklich in meinem Leben? Was macht mich glücklich? Vielleicht sind es die gleichen Fragen mit einer anderen Formulierung. Danke für deine Inspirationen, Maria
Liebe Julia, ich finde es spannend, dass du Scheitern und Erfolg als Reise beschreibst und dabei sich deine Sichtweise immer wieder ändert, wie das so ist auf der Reise. Schmunzeln musste ich, wie du die Spielsituationen mit deinem Neffen beschreibst. Hat mich an meinen Opa erinnert, der wollte auch immer gewinnen :-). Spannend – ganz abseits vom Thema fand ich die Aussage: „Mein Urgroßonkel wurde unfreiwillig in die USA verschifft, weil er Alkoholiker war. Wie man das damals gerne machte mit den schwarzen Schafen.“ Davon habe ich noch nie etwas gehört. Hat es ihm geholfen, vom Alkohol wegzukommen? Hab deinen Beitrag sehr gern gelesen. Danke! Herzliche Grüße Sylvia
Liebe Sylvia,
doch, diese Art der „Abschiebung“ war damals wohl recht beliebt. Ist ja auch schon etwa 100 Jahre her. Ich habe meine Mutter auch mal gefragt, was aus ihm geworden sei. Es hieß, er sei wohl vom Alkohol losgekommen, aber ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Jedenfalls ist er meines Wissens nach nicht nach Deutschland zurückgekommen.
Es freut mich sehr, dass Dir der Beitrag gefallen hat. 🙂
Viele Grüße, Julia
Liebe Julia,
ein richtig toller Beitrag! Ich danke dir!
Und ich erkenne mich an einigen Stellen wieder und behaupte mal ganz wagemutig, das geht sicherlich einigen so. Stichwort Leistungsgesellschaft.
Ich finde es toll, dass du dieses Bewusstsein hast.
Du hast geschrieben, dass du keine genaue Definition von Erfolg hast und dein Ziel Zufriedenheit und Erfüllung sind. Mir kamen da direkt Impulse.
Ich bin einfach mal so frei und hoffe das ist okay für dich und frage dich: Braucht es denn überhaupt eine Definition von Erfolg? Was bedeutet Zufriedenheit für dich und erfüllt zu sein? Wie fühlt sich das für dich an? Magst du mal reinspüren? Es lohnt sich meiner Erfahrung nach.
Viele Grüße,
Sabrina
Liebe Sabrina,
vielen Dank für Deine Denkanstöße! Das sind natürlich alles Fragen, an denen ich schon länger arbeite. 😉
Viele Grüße, Julia
„RUHE“-Stand, dieser Begriff verursacht bei mir Gänsehaut! Kann mir nicht vorstellen, dass dieser gruselige Zustand für Dich passen würde …