New York, Rio, Tokyo! Dieser Artikel entsteht als Beitrag zur Blogparade von Angelika Klein aus dem Sommer 2024. Schöne Idee, dachte ich, da machst du natürlich mit! Sind ja nur ein paar Städte, in denen ich gelebt habe. So ein Artikel ist folglich auch schnell geschrieben. Dachte ich.
Es dauerte dann doch deutlich länger als geplant. Erstens hatte ich plötzlich mehr Inhalte als erwartet. Und mit dem Schreiben kommen die Erinnerungen.
Also, komm mit, nach Europa, in die USA und nach China. Und schreib mir gerne in die Kommentare, wo Du schon gelebt hast.
In meiner eigenen Blogparade geht es um das Thema Was ich auf Reisen (über mich) gelernt habe.
Plettenberg
Hier bin ich aufgewachsen, mitten im Sauerland. Mit Eltern, Großeltern und zeitweise auch meiner Urgroßmutter und -tante. Schon früh hatte ich den Drang nach „woanders“. Bis heute kann ich es nicht verstehen, dass manche Leute aus meiner Klasse wirklich nie von dort weggekommen sind, nicht mal vorübergehend zum Studium oder so. Ich spreche jetzt nicht von denen, die es sich nicht leisten konnten, sondern von denen, die nicht wollten.
Auf einer Konferenz habe ich mal eine Frau getroffen, die mit einem Sauerländer verheiratet war. Es gäbe sowieso nur zwei Arten von Sauerländern, meinte sie: Diejenigen, die nie rauskämen, und diejenigen, die es gar nicht abwarten könnten, rauszukommen. Ich gehöre definitiv zur zweiten Gruppe.
In den 2010er-Jahren war ich aus familiären Gründen wieder deutlich häufiger vor Ort. Wenn ich im Zug saß und die Sonne lachte, dachte ich, ach, das Sauerland ist irgendwie doch ganz schön. Aber den Ort fand ich einfach nur noch deprimierend. Auch wenn mir das Herz blutete, als wir vor einigen Jahren das Haus verkauften, das seit etwa 100 Jahren in der Familie gewesen war, war es doch die richtige Entscheidung.
Magna, Utah (1992)
Nach Magna, einen kleinen Ort südwestlich von Salt Lake City, verschlug es mich mit 16: Drei Monate lang lebte ich dort als foreign exchange student bei einer wunderbaren Gastfamilie. Amerikanischer Alltag in einem verschlafenen Nest.
Seit den 1990ern hat sich in Utah viel verändert, aber damals war dort alles extrem von den Latter-Day Saints, also der Mormonen-Kirche, geprägt. Ich habe nur eine einzige Mitschülerin kennengelernt, die nicht Mormonin war. Und nur eine, die Einzelkind war – und auch nur aus medizinischen Gründen. Die durchschnittliche Mormonenfamilie hatte damals sieben Kinder, ich kannte aber auch Leute mit zehn Geschwistern. Supermärkte waren am Sonntag zwar geöffnet, die bescheidene Alkoholauswahl allerdings stand nicht zum Verkauf. Coffeeshops? Fehlanzeige. Die Kirche verbietet Koffein; dass dieses in Cola reichlich vorhanden ist, hatte sich allerdings nicht überall herumgesprochen (z. B. nicht bis zu meinem Gastvater, der das Zeug literweise soff).
Eine weitere Besonderheit: Die fortlaufende Nummerierung der Straßen, ausgehend vom Tempel in Salt Lake City. Grundsätzlich kann man jede Adresse in Utah in Form von Koordinaten ausdrücken. Bei mir erzeugte das zunächst maximale Verwirrung. Unsere Hausnummer war 3621, unsere Straße aber nur eine kurze Sackgasse. Das passte für mich nicht zusammen.
Der größte Kulturschock von allen war aber das berüchtigte Magna water. Das Trinkwasser wurde aus dem nahen Großen Salzsee gewonnen, ein paar Mal gefiltert und dann in die Leitungen eingespeist. Den ersten Schluck hätte ich fast wieder ausgespuckt.
Magna selbst hatte nicht viel zu bieten außer einem Supermarkt und mehreren Kirchen. Dank meines Gastvaters, der Busfahrer war, bekam ich eine kostenlose Jahreskarte, mit der ich bis zum Einkaufszentrum fahren konnte. Hammer! So was hatte ich noch nicht gesehen. Natürlich handelte es sich um eine eher kleinere mall. Aber das wusste ich ja nicht!
Da saß ich nun in einem der landschaftlich beeindruckendsten Staaten der USA und sah – nichts. Wir fuhren zwar mal zum Camping an den Bear Lake 😍, besichtigten die offene Bingham Kupfermine und die Innenstadt von Salt Lake City. Doch schon um den Besuch am Großen Salzsee selbst musste ich kämpfen. „Bist du sicher, dass du dahin willst?“, fragte mein Gastvater stirnrunzelnd, „da stinkt’s.“ Schließlich sah ich Los Angeles und Disneyland, aber auch nur, weil die Eltern meiner Gastmutter, die dort lebten, mich für eine Woche bei sich aufnahmen. An die übrigen Naturschönheiten des Staates war leider nicht zu denken – meine Gasteltern hatten einfach kein Geld. Erst 2018 habe ich es in verschiedene Nationalparks im Süden geschafft.
Lies gerne mehr über meinen Sehnsuchtsort Utah.
München
München, mon amour. Die schönste Stadt der Welt kannte ich schon ganz gut, bevor ich nach dem Abitur herzog. Mittlerweile habe ich den Großteil meines Lebens hier verbracht. Lange habe ich in Nordschwabing gelebt; seit einigen Jahren bin ich nun südlich der Stammstrecke beheimatet.
Was fällt mir zu München ein? Diesen Abschnitt gehe ich als letzten an, die anderen sind schon fertig. Und jetzt fällt es mir total schwer, etwas zu schreiben. Interessant.
Was mir in letzter Zeit immer mehr auffällt: Das Millionendorf wird langsam hektisch. Sich in der Innenstadt aufzuhalten, ist gerade an Samstagen eine Tortur (ok, war es schon immer). Warum hier noch irgendwer freiwillig Auto fährt, ist mir schleierhaft. Wobei, der ÖPNV ist auch schon deutlich an seinen Grenzen. Allmählich wird die Stadt unbezahlbar. Wer umziehen muss, dem gnade Gott (Neubau Erstvermietung für 35 € pro Quadratmeter, what?). Ausgehen macht auch nur noch Spaß, wenn man gerade im Lotto gewonnen hat.
Aber das Schöne überwiegt ganz klar. Die Atmosphäre, der Englische Garten und der Westpark, die Biergärten, die Auer Dult. Die Theater! Die Museen! Sogar das Essen – inzwischen kommt man ja auch vegetarisch und gar vegan ganz gut durch. Und natürlich das Umland. Ich dachte ja immer, ich sei der Strand-Typ. Dann lebte ich in Alicante in unmittelbarer Nähe vieler Strände und stellte fest: Ich vermisse die Berge. Jetzt sind sie nur eine Stunde Zugfahrt entfernt. Also, vorausgesetzt, der Zug fährt. 🤣
Und wenn ich den Drang verspüre, was ganz Anderes zu sehen: Der Flughafen ist nicht weit. 😉
Kopenhagen (1999)
Im Rahmen des ERASMUS-Mobilitätsprogramms bestand die Möglichkeit, im Hauptstudium ein Semester an einer europäischen Partneruni zu verbringen. Natürlich bewarb ich mich darauf. Meine Wahl fiel – selbstredend nach rein akademisch-wissenschaftlichen Kriterien – auf Kopenhagen. Ich war schließlich noch nie in Dänemark gewesen. Und seitdem bin ich auch nicht mehr da gewesen, leider.
Meine prägnantesten Erinnerungen:
Unser Wohnhaus – ich lebte zur Untermiete bei Dagmar in einer schönen kleinen Wohnung in Frederiksberg – wurde renoviert. Und zwar von Kopf bis Fuß. Dach neu, Fenster neu, Zentralheizung neu, Fassade neu. So wurde damals halb Kopenhagen aufgemöbelt. Eigentlich bekam man für die Zeit der Arbeiten eine Ersatzwohnung gestellt. Unser Haus hingegen nicht: Das sei nicht nötig, hieß es, wir könnten ganz normal weiterleben. Selten so gelacht. Das Warmwasser wurde ohne Ankündigung abgestellt. Die Handwerker ließen die Wohnungstüren sperrangelweit auf, wenn sie mit der Arbeit fertig waren. Es empfahl sich, die ganze Wohnung zu staubsaugen, wenn man abends heimkam, damit man nicht in irgendetwas Spitzes oder Scharfes trat. Eines Tages, Dagmar war übers Wochenende zu ihrem Vater gefahren, stand ich dick eingemummelt in der Küche und stellte fest: Im Kühlschrank war es wärmer als in der Wohnung.
Als am 3. Dezember der Handwerker, der soeben die Heizungsventile montiert hatte, sagte, die Heizung würde nun funktionieren, hätte ich fast geheult. Es war schon eine ziemlich stressige Zeit.
Kurz nach meiner Ankunft hatte ich diese Begegnung an der Bushaltestelle. Da saß eine ältere Frau und quatschte munter los. „Jeg taler ikke dansk“, ich spreche kein Dänisch, ging mir schon ganz gut über die Lippen. Sie sprach kein Englisch. „Deutsch?“, fragte sie und teilte mir dann fröhlich mit, sie habe fünf Jahre in einem Konzentrationslager verbracht. Mir stand der Mund offen.
Dann natürlich die Preise. Alles war unfassbar teuer. Mein Stipendium ging komplett für die Miete drauf. Schon in der ersten Woche beschloss ich, im Supermarkt nichts mehr umzurechnen. Einfach kaufen, du kannst es eh nicht ändern. Zum Glück trinke ich keinen Alkohol, so war wenigstens ein Kostenfaktor eliminiert.
Meinen ersten und bislang einzigen Orkan habe ich in Kopenhagen erlebt. Mir war gar nicht klar, was los war, da ich ja den Wetterbericht nicht verstand. Ich war mit meiner Freundin Esther unterwegs (Kino, „Eyes Wide Shut“), weil die Leute, bei denen sie wohnte, eine Party feierten, zu der sie nicht eingeladen war. 🙈 Als ich dann spätabends in der Nähe meines Hauses das Baugerüst erblickte, das der Sturm von der Fassade gerissen und über die Straße verteilt hatte, wurde mir auch klar, warum mein Bus nicht fuhr.
Überhaupt, die Busse! Die hatten damals schon Monitore, auf denen die Ankunftszeit an der nächsten Haltestelle angezeigt wurde. Und sogar dynamisch angepasst wurde!! Das schafft München bis heute nicht.
Nirgendwo hatte ich je so viele schwangere Studentinnen, so viele junge Familien, so viele Väter alleine mit Kindern gesehen. Und das, obwohl mir Dagmar und ihre Freundin Birgitte versichert hatten: Der Däne will sich nur ein einziges Mal mit dir unterhalten, und dann will er dich nie wiedersehen.
Touristisch gesehen ist Kopenhagen natürlich ebenfalls ein Highlight. Eine wirklich schöne Stadt mit kleinen und großen Sehenswürdigkeiten. (Das Königliche Ballett ist übrigens auch echt gut, das habe ich aber erst später gemerkt.) Gleich nach meiner Ankunft Ende August, als es unerwartet warm und sonnig war, habe ich die ganzen Sehenswürdigkeiten unter freiem Himmel abgeklappert. Die Museen wollte ich mir für den Herbst aufsparen. Fehler. Denn im Herbst hatte ich so viel an der Uni zu tun, dass an Sightseeing nicht mehr zu denken war.
Überhaupt, die Uni. Der Kern der Københavns Universitet ist mitten im Stadtzentrum. Die Juristen haben hier tolle Räumlichkeiten. Die Bibliothek ist wunderschön. Die Anglistik-Fakultät war natürlich woanders angesiedelt, auf halbem Weg zum Flughafen, in einem Gebäude aus den 70ern. 😂 Aber aufgrund der bereits angesprochenen Renovierungsarbeiten bei uns war ich sowieso die meiste Zeit im „Schwarzen Diamanten“, dem damals neu eröffneten Bibliotheksbau. Hier liefen fotografierende Touristen durch die Lesesäle. Man fühlte sich ein wenig wie ein Zootier. Werfen Sie mir Futter zu, wenn ich ein Kunststück vorführe?
Habe ich akademisch viel mitgenommen? Geht so. Bis ich das dänische System durchschaut hatte, war mein Semester schon fast wieder vorbei. Aber ganz ehrlich, das sollte bei ERASMUS jetzt nicht unbedingt der ausschlaggebende Faktor sein. Das Drumherum ist viel wichtiger. Es war eine schöne Zeit in einer tollen Stadt, an die ich gerne zurückdenke.
Alicante (2013)
Auf dem spanischen Festland war ich noch nie gewesen, als ich zum Vorstellungsgespräch in Alicante einschwebte. Ich war entsetzt: Wo war ich denn hier gelandet? Mitten in der Wüste? Mein erster Eindruck war, hüstel, nicht der beste. Daher war ich fast erleichtert, als ich die Absage für den doch ziemlich attraktiven Job bekam, auf den ich mich beworben hatte.
Ein Jahr später war ich wieder da. Diesmal mit einem Angebot in der Tasche. Die Wüste blühte zwar immer noch nicht, aber wir freundeten uns miteinander an. Ich fand eine Wohnung – genau genommen 15 Wohnungen, die ich alle hätte haben können – und eine Lieblingseisdiele, sogar eine Ballettschule.
Ganz alleine in Alicante angekommen, fand ich im Büro schnell Anschluss. Denn mein Arbeitgeber stellte damals im großen Stil ein. Wir waren etwa 15 Neue, die gleichzeitig anfingen, fast alle aus dem Ausland, die meisten ohne Familie. Nur wenige Wochen später begannen die Hogueras, das Johannisfest. Also im Grunde eine Fortführung der heidnischen Feiern zur Sommersonnenwende. Als Münchnerin dachte ich mit Schrecken an die zu erwartenden, alkoholbedingten Exzesse. Aber nichts. Es war eine geile mehrtägige Party, bei der die Menschen zwar Wein tranken, aber einfach nur glücklich und lustig waren und auf der Straße tanzten. Und wir mittendrin.
Überhaupt war das das Schöne in Spanien: Die Leute waren – meistens zumindest – echt entspannt. No pasa nada, todo bien, macht nichts, alles gut, hieß es ständig und zu jeder Gelegenheit. Es ist natürlich meist Chaos angesagt, aber das wissen die Spanier, und deshalb sind sie auch nachsichtig, wenn bei jemand anderem Chaos ist. Wo der Franzose angewidert schaut, wenn nicht-Muttersprachler komplexe grammatikalische Konstruktionen nicht perfekt hinbekommen, fällt der Spanier fast um, wenn man etwas mit ihm spricht, das irgendwie Spanisch klingt – „hablas muy bien español!“, du sprichst sehr gut Spanisch, wurde mir gesagt, wenn ich einen halbwegs verständlichen Satz herausbekommen hatte.
Und das musste ich öfter, als mir lieb war. Denn so international mein Freundes- und Kollegenkreis war, so monolingual war Alicante. Die meisten Einwohner sprachen wirklich nichts außer Spanisch oder vielleicht noch Valenciano, dem lokalen Dialekt. Wir hatten also gar keine Wahl, als das Wissen aus unseren Spanischkursen direkt anzuwenden. Deshalb habe ich auch viel weniger Hemmungen, Spanisch tatsächlich zu sprechen, als beispielsweise Französisch, obwohl mein Französisch formell deutlich besser ist. Beim diesjährigen Yogaretreat in Andalusien gab es auch mehrere Kommentare, dass mein Spanisch aber doch ziemlicht gut sei. 😌
Natürlich spürte man damals auch die Wirtschaftskrise. Überall wurden Immobilien zum Kauf angeboten, die meisten für weniger Geld, als man in München für eine Hundehütte bezahlt. Überall Flugzettel, auf denen Menschen sich als Fahrer oder Reinigungskraft anboten. Und überall Bars, wo es caña y tapa, also ein kleines Bier und ein paar Chips, für 1 € gab. Am Strand hielten sich viele sehr gut gebräunte und durchtrainierte junge Männer auf, die einfach den ganzen Tag Beachvolleyball spielten. Gleichzeitig gab es aber auch sehr viele sehr gut gekleidete Menschen, die abends auch in den teureren Lokalen jeden Tisch belegten. Und noch nie habe ich so viele Frisiersalons gesehen. Meine besten Haarschnitte habe ich in Spanien gehabt.
Alicante ist nun leider keine wirkliche Schönheit. Aber die Stadt hat nette Ecken. Die Altstadt ist in Ordnung, obwohl so einige Dörfer in der Umgebung hübscher sind. Die Preise sind moderat, die Leute nett, der nächste Strand ist nicht weit. Man kann es da schon ganz gut aushalten. Sofern man eine Klimaanlage in der Wohnung hat.
Beijing (2013)
Ok, das stimmt jetzt nur so halb. Richtig gelebt habe ich in China nie. Aber während ich in Alicante lebte, hatte ich vier Dienstreisen nach Beijing, von denen eine sich gar über 23 Nächte erstreckte. Da ich aus einem früheren Job auch noch jede Menge Leute dort kannte, fühlte es sich fast so an, als würde ich da leben.
Vor meinem ersten Besuch in Beijing hatte ich immer gehört, die Stadt sei so naja, Shanghai hingegen sei umwerfend. Ich fand auch Beijing umwerfend, auf seine eigene Art. Es gibt so viele Gegensätze, hypermoderne Architektur und daneben die alten hutongs (damals zumindest noch), schicke Einkaufszentren und einfache Restaurants, vielspurige Straßen und in manchen Nebenstraßen eine fast dörfliche Atmosphäre. Über allem fast immer dichter Smog.
Ich bin ja meist öffentlich unterwegs – so auch in Beijing. Angesichts des Verkehrs, der nie abzureißen scheint, ist die U-Bahn häufig ohnehin die bessere Wahl als das Taxi. Die Fahrt kostete umgerechnet nur 10 Cent. Mit einer aufladbaren Guthabenkarte konnte man in Windeseile durch die Drehkreuze schnurren. Die Züge waren regelmäßig zum Bersten voll, es war absolut kein Durchkommen. Aber wenn man aussteigen muss, fangen alle an, sich so ein kleines bisschen zu bewegen, und plötzlich ist man an der Tür. So muss sich Moses gefühlt haben, als er das Rote Meer teilte.
Der U-Bahn-Verkehr wird noch vor Mitternacht eingestellt. Völlig nachvollziehbar in einer Stadt mit mehr als 20 Millionen Einwohnern. Eines Abends hatte ich eine Freundin besucht, die auf dem Campus der Tsinghua Universität lebte, und war auf dem Rückweg zu meinem Hotel unweit des Platzes des Himmlischen Friedens. Ich fuhr zunächst mit einer Art S-Bahn. An der Umsteigehaltestelle fingen die anderen Fahrgäste plötzlich alle an zu rennen. Vielleicht sollte auch ich rennen?, dachte ich. Gute Idee. Hinter uns wurde der Eingang zur U-Bahn geschlossen. Wir saßen im letzten Zug.
Natürlich hatte ich die Luxusversion des Hauptstadtlebens, mit 5*-Hotel und einer großzügigen Verpflegungspauschale, die im Wesentlichen auch alle meine anderen Kosten vor Ort, also mehrmals wöchentlich Massage, Ausflüge, Souvenirs, abdeckte. Was meine Freunde so vom örtlichen Immobilienmarkt erzählten (Münchner Preise bei chinesischen Gehältern, und natürlich MUSS man kaufen – mieten ist nicht hoch angesehen), klang schon weniger lustig.
Zehn Jahre lang war ich nun nicht mehr in China. Seitdem hat sich extem viel verändert. Hier zwei interessante Artikel aus der New York Times (möglicherweise Paywall): What’s It Like Traveling to China These Days? und Why Chinese Propaganda Loves Foreign Travel Bloggers.
London (2014)
Schon bei meinem ersten Besuch in London mit zarten 15 Jahren war ich total geflasht. Warum waren wir dort? Ich stand damals in Verhandlungen mit meiner Mutter, ob ich in der 11. Klasse wohl in die USA gehen dürfte (das Ergebnis siehe ⬆️ Magna, Utah). Sie war strikt dagegen. Um mir zu beweisen, dass ich nicht alleine zurechtkommen würde, fuhr sie mit mir für ein paar Tage nach London. Dort absolvierten wir zunächst das Standardprogramm für Touristen. Doch an einem Tag durfte ich alleine losziehen. Abends war meine Mutter, die in der Tate und bei Liberty gewesen war, ziemlich baff, als ich ihr mein Tagesprogramm referierte.
Hmmm, wenn ich es mir recht überlege, war das das erste Mal, dass ich auf eigene Faust auf Reisen war. Gewiss war meiner Mutter damals nicht bewusst, was sie damit auslösen würde. 🤔
Auch bei späteren Besuchen riss meine Begeisterung nicht ab. Irgendwann hatte ich den Gedanken im Hinterkopf: Hier würde ich gerne mal leben. Aber das klappt eh nicht. Denn wie finde ich hier einen Job? Wie eine Wohnung?
Dann ging es plötzlich ganz schnell. Ich fand erst den Job, dann die Wohnung und landete wenige Wochen später am Flughafen Gatwick.
Es wurden intensive zwei Jahre. In Alicante war ich in 14 Monaten zweimal im Theater gewesen. In London war ich durchschnittlich etwa zweimal pro Woche im Theater. Ich führte eine Liste mit den aktuellen Ausstellungen, um möglichst wenige zu verpassen – es waren einfach so viele. (Hier findest Du übrigens eine Liste mit Museen und Galerien in London.) Notgedrungen passte ich meine Arbeitszeiten an, da morgens um 8:30 Uhr die U-Bahnen so voll waren, dass man nicht einsteigen konnte. Und von den Preisen wollen wir jetzt gar nicht reden. So schnell konnte ich das Geld gar nicht abheben, wie es mir durch die Finger floss.
Die größte Sorge hatte mir ja die Wohnung bereitet. Die war im Endeffekt das geringste Problem. Ich wollte ins East End, und da landete ich auch. In Tower Hamlets, dem zweitärmsten borough Londons. Meine Gegenüber zuckten regelmäßig zusammen, wenn sie hörten, dass ich in Bow lebte. Man sah, dass die Gegend noch etwa 15 Jahre zuvor ein Slum gewesen war. (Die Mieten für eine Zweizimmerwohnung gingen trotzdem erst bei etwa £ 400 los. Pro Woche. Kalt.) Ich fand es trotzdem toll: eine bunte Gegend, ziemlich ruhig, im Idealfall 35 Minuten bis ins Büro, der Bus hielt quasi vor der Haustür. Eines Nachts erschreckte ich einen Fuchs, der es sich auf dem Rasen bequem gemacht hatte.
Es war eine sehr bereichernde Zeit. Es war aber auch sehr, sehr anstrengend. Auf Dauer hätte es dazu geführt, dass ich begonnen hätte, die Stadt zu hassen. Und so lud ich exakt zwei Jahre nach meiner Ankunft mein Gepäck wieder in ein Minicab und fuhr zum Flughafen: Ryanair nach Dortmund. Back to my roots.
Liebe Julia, was für faszinierende Stationen 🙂 Mir ging es nach dem Abitur ähnlich, dass ich erstmal einen richtigen Szenenwechsel brauchte. Im Gegensatz zu anderen aus meiner Stufe, die nie aus ihrem Heimatort weggezogen sind. Ich kann auch deine Faszination für London verstehen. Seit dem Brexitreferendum bin ich dort nicht mehr gewesen, das hat mich echt nachhaltig geknickt. Es hat sich gelohnt, dass dein Blogartikel nicht so kurz wurde wie gedacht und ich freue mich mit dir über das Schwelgen in Erinnerungen 😀
Liebe Grüße
Angela
Vielen Dank, liebe Angela! Immer mal wieder interessant, so ein „walk down memory lane“…
Liebe Julia,
was für ein großartiger Beitrag zu meiner Blogparade! Das ist eine beeindruckende Liste von Wohnorten – besonders um London beneide ich dich. Ich war da auch mit 15 zum ersten Mal – auf einer Sprachreise, also das erste Mal ohne Eltern unterwegs. Danach träumte ich davon, mal in London zu leben. Wenn ich nicht schon mit 24 Mutter geworden wäre, hätte es womöglich geklappt. Glücklicherweise konnte ich später durch viele geschäftliche und private Reisen einiges aufholen. Vielen Dank für deinen wunderbaren Text!
Viele Grüße
Angelika